Publikation mit
freundlicher Genehmigung
der Lokalredaktion Radeberg

Sächsische Zeitung
Donnerstag, 6. Oktober 2005


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Die toten böhmischen Dörfer
Von Holger Metzner

Heimat. Von vielen Orten im Erzgebirge blieben nicht einmal Mauerreste, doch außer Jindrich Pech fragt kaum einer danach.

Wer glaubt, dass allein die Deutschen zu Selbstbeschimpfungen neigen, hat Jindrich Pech noch nicht über die post-kommunistischen Tschechen reden hören. "Wir sind faul, wir sind uninteressiert, wir sind korrupt, wir jammern, wir halten uns nicht an Verabredungen und wir lieben es, schlecht über unsere Nächsten zu reden." Dabei wirkt der 42-Jährige wie das genaue Gegenteil all dessen - mit Ausnahme des letzten Punktes vielleicht. Jindrich Pech ist leidenschaftlicher und engagierter Erzgebirgler.

Und genau deswegen hat er sich mit vielen seiner Nachbarn verstritten. Sein Interesse gilt nämlich dem dunkelsten Kapitel der Geschichte des "Krusné Hory", der böhmischen Seite des Ost-Erzgebirges. Gemeinsam mit seiner Freundin, der Historikerin Marketa Kvasnova, dokumentiert Pech die Geschichte der "Verschwundenen Dörfer", Orte, die auf keiner Landkarte mehr erscheinen und die noch vor 60 Jahren zum Alltagsleben gehörten.

Selbst Namen sind vergessen

Vierzehn Gemeinden zählte der Kreis Teplice bis 1945 auf dem Kamm des Gebirges, heute sind es gerade noch sechs. Das Verschwinden der übrigen Dörfer geschah so gründlich, dass sich auf beiden Seiten der Grenze nur noch die Ältesten an die Namen erinnern können. Noch schwerer ist es, letzte Trümmer der Häuser aufzuspüren.

Als Wanderleiter und Heimatforscher kennt Jindrich Pech jeden Weg, doch auch er muss sich manchmal erst wieder orientieren: An die einst 64 Häuser des Holzfäller- und Torfstecherortes Motzdorf erinnern nur wenige Steine, überwuchert von Birken und blühenden Disteln. Ein Gebüsch, umgeben von Schafweiden, mehr nicht. Vom Kirchflecken Fleyh sind noch einige Grundmauern sichtbar, der Rest liegt seit 1958 auf dem Grund einer Trinkwasser-Talsperre. Hier und in den anderen Orten Grünwald, Ullersdorf, Vorder-Zinnwald, Ebersdorf, Müglitz und Willersdorf lebten über Jahrhunderte vor allem deutsche Katholiken. Handwerker, Beamte, Bauern - treue Untertanen der Donaumonarchie. Das Ende des Zweiten Weltkrieges bedeutete das Ende der deutschen Siedler. Sie wurden aus Böhmen vertrieben. Viele von ihnen in der so genannten "Wilden Vertreibung". Wenige Jahre später kamen die Bulldozer.

In den fünfziger und sechziger Jahren schob die russische Armee die leer stehenden Häuser endgültig zu Schutthaufen zusammen. Es hatten sich keine neuen Einwohner für das harte Leben im rauen Klima gefunden. Jetzt sollte der Grenzstreifen zu Deutschland möglichst frei gehalten werden und Schmugglern keinen Unterschlupf bieten.

Kaum jemand aus der jüngeren Generation kenne diese Orte, sagt Jindrich Pech. Oder wolle sie kennen. Bei manchen sei es vielleicht das schlechte Gewissen, bei anderen die Angst vor Rückgabeforderungen durch die Deutschen. Doch den Meisten sei die ganze Geschichte einfach nur egal. Die Ignoranz treibt Jindrich Pech um. "Ich will nicht diskutieren, ob die Benes-Dekrete gerechtfertigt waren oder nicht. Aber ich will, dass wir uns für unser Land und unsere Geschichte wieder interessieren. Ohne dieses Verständnis wird es keine gemeinsame Zukunft zwischen Deutschen und Tschechen geben." Tatsächlich haben die Deutschen keinen guten Ruf in der Grenzregion. Deutsche - das sind laute und eitle Tanktouristen, die Unmengen Geld für gefälschte Zigaretten ausgeben und die Puffs an den Grenzstraßen bevölkern. Deutsche Vorurteile über die tschechischen Nachbarn sind kaum schmeichelhafter. Das für beide Seiten profitable Preisgefälle ist der Kitt der Beziehungen.

Die endlosen Wiesen auf dem Erzgebirgskamm sind weiß von Margeriten. Auch hier in Ullersdorf wurden alle vertrieben. Bis auf eine einzige Familie. Niemand weiß, warum ausgerechnet die Klausnitzers bleiben durften. Selma Klausnitzer zuckt mit den Schultern. Sie lebt heute in Moldava, nur wenige hundert Meter vom ehemaligen Haus ihrer Eltern entfernt, mit ihrer Tochter und zwei Brüdern. Sie sind um die fünfzig und kennen den Krieg nur vom Hörensagen. Warum gerade ihre Eltern bleiben durften, das wüssten sie selbst gern. Vielleicht weil der Vater in der neu gegründeten LPG unentbehrlich war?

Seit dem 16. Jahrhundert gehörte das Grundstück in Ullersdorf der Familie, 1945 wurde sie enteignet, doch blieb sie bis Ende der fünfziger Jahre auf dem Hof. Heute ist die deutsche Familie ein Unikum in Moldava. Untereinander sprechen sie ein eigenes deutsch-tschechisches Idiom, je nachdem, welche Sprache kürzer ist. Ferngesehen wird auf Deutsch, Witze sind besser auf Tschechisch. Mit den Nachbarn haben sie nur wenig Berührungen - die Klausnitzers hängen an ihrer böhmischen Scholle, nicht an den Menschen hier.

An die Dörfer ihrer Kindheit hat Selma Klausnitzer vor allem eine Erinnerung: Es war kalt. Drei Meter Schnee im Winter, ein kilometerweiter Fußmarsch zur Schule, ein einziges beheiztes Zimmer im ganzen Haus. Ullersdorf war ein typisches erzgebirgisches Streudorf, mit 76 einzelnen Häusern entlang des Kammes, ohne echtes Zent rum. 386 deutsche Einwohner gab es im Jahr 1885. Reiseführer aus dem 19. Jahrhundert priesen die gute Luft, das gesunde Wasser.

Die Klausnitzers schufteten wie ihre Vorfahren in der Landwirtschaft, bis das so genannte "Protektorat", die Zwangsannektierung durch Hitlerdeutschland, etwas Wohlstand ins Gebirge brachte. "Auch die Tschechen haben doch vom Protektorat profitiert", meint Selma Klausnitzer. "Hier wurden immerhin dieselben Löhne bezahlt wie in Deutschland." Die Schrecken der Naziherrschaft waren weit weg für ihre Eltern. "Und die Vertreibung?" Schweigen. Vater und Mutter hätten schlimme Dinge erzählt, meint Selmas Bruder Hermann. "Was genau ist denn passiert?" Nein, darüber reden sie nicht, wenn ein Journalist dabeisitzt. Die Nachbarn im Ort seien da sehr sensibel, und beweisen könne man ja sowieso nichts.

Wer Details erfahren will über die "Wilde Vertreibung" und das Ende der Bergdörfer, muss in Deutschland suchen. Die meisten Zeitzeugen sind ohnehin tot, die anderen leben weit entfernt in Bayern oder Baden-Württemberg, viele sind organisiert in der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Erich Phillip aus Deisenhofen bei München fährt seit 1990 regelmäßig in seinen ehemaligen Wohnkreis, betreut auf der sächsischen Seite der Grenze, in Deutschneundorf, eine "Heimatstube" im Ortsmuseum. Er kennt die Geschichten von den frühmorgendlichen Räumungen der Häuser, den geraubten Eheringen und den Todesschüssen auf dem Marsch über die Grenze. Doch vor allem treibt ihn die Angst um, mitsamt den Dörfern einfach aus der Geschichte zu verschwinden. Dass auf den neuen Infotafeln böhmischer Wanderwege kein Wort über die deutsche Geschichte verloren wird, ärgert ihn mehr als der Streit zwischen Stoibers Bayern und der Regierung in Prag um die Bewertung der Vertreibung.

Das Desinteresse an der deutschen Vergangenheit der Region ist fast demonstrativ. Dabei sind viele, die heute im nordböhmischen Gebirge leben, selbst Entwurzelte. Nachdem die Deutschen vertrieben wurden, kamen in den späten vierziger Jahren Arbeitssuchende aus ganz Tschechien, um in den Industrieorten im Tal Jobs und Wohnungen zu finden. Die wenigen, die in Gebirgsdörfer wie Moldava zogen, bildeten eine zusammengewürfelte Gemeinschaft, ohne bürgerliche Basis, oft ohne soziale Kontrolle und ohne Verständnis für die Geschichte. Dazu kommen seit 1989 Vietnamesen, die heute fast zehn Prozent der Bevölkerung von Moldava ausmachen und die die florierenden Trödelmärkte an der Grenze kontrollieren. Eine geschlossene Gesellschaft, die sich kaum in die tschechische Kultur integriert.

Pech und Marketa Kvasnova haben dicke Aktenordner voller Fotos, Unterlagen und Karten zusammengetragen. Doch der Bürgermeister vermietet den alten Bahnhof lieber an zahlungskräftige Vietnamesen, als dass er eine Ausstellung über kaputte deutsche Dörfer unterstützt. Auch die Bibliothek will keinen Platz für sie schaffen. Private Ausstellungsräume können sich die Heimatforscher nicht leisten. Schon beginnt Pech wieder zu schimpfen: "Ohne Erinnerung keine Heimatliebe, und ohne Heimatliebe geht hier bald alles kaputt."

Hoffnung auf EU-Hilfe

Wütend starrt er aus dem Fenster seiner Einraumwohnung auf den Billigmarkt an der Grenze. 180 Einwohner hat Moldava. Jetzt soll eine vierte Tankstelle gebaut werden. Die ersten Windräder lässt die Gemeinde gerade aufstellen, in Pechs Augen ein Verbrechen an der grandiosen Gebirgslandschaft. Viel Arbeit für den Weltverbesserer. Für sein Projekt "Heimatliebe" organisiert er jetzt deutsche Abende in Tschechien und übersetzt deutsche Speisekarten für tschechische Touristen in Sachsen. Hinweistafeln und Wanderkarten will er erarbeiten, um die verschwundenen Dörfer wenigstens touristisch vermarkten zu können. Eine kurze Ausstellung im Museum der Kreisstadt Teplice hat es bereits gegeben. Ein Kalender mit Fotos der zerstörten Orte ist im Druck. Jetzt hoffen er und seine Freundin auf Geld von der EU, vielleicht für eine kleine Wanderausstellung. Bis dahin ziehen die beiden so oft wie möglich selbst durchs Gebirge, auf tschechischer oder deutscher Seite. Alles, was ihnen wichtig ist, liegt nur einen Fußmarsch entfernt.



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